Über fünf Millionen Besucher strömen jährlich nach Pisa, um eines der faszinierendsten Bauwerke der Welt zu bewundern. Der Schiefe Turm ist längst mehr als ein architektonischer Unfall – er verkörpert die Hartnäckigkeit mittelalterlicher Baukunst, die Geschichte der toskanischen Seerepublik und die zeitlose Faszination für das Außergewöhnliche. Wer die Toskana bereist, findet hier nicht nur ein weltberühmtes Fotomotiv, sondern ein einzigartiges Ensemble aus Kunst, Spiritualität und Geschichte auf der Piazza dei Miracoli.
Geschichte eines außergewöhnlichen Bauwerks
Der Bau des freistehenden Glockenturms begann am 9. August 1173 unter Architekt Bonanno Pisano mit einem Volksfest und großen Ambitionen. Der Campanile sollte aus edlem Carrara-Marmor entstehen und den Reichtum der mächtigen Seerepublik Pisa demonstrieren. Doch bereits 1178, beim Errichten des dritten Stockwerks, neigte sich der Turm um fünf Zentimeter nach Südosten – der instabile Untergrund aus Lehm und Sand konnte das enorme Gewicht nicht gleichmäßig tragen. Die Bauarbeiten wurden eingestellt, was dem Boden Zeit zur Beruhigung gab und vermutlich den sofortigen Einsturz verhinderte.
Hundert Jahre später nahm Giovanni di Simone die Arbeiten wieder auf und versuchte, die Schieflage durch vier vertikal errichtete Stockwerke zu kompensieren. Das Ergebnis überzeugte nicht – der Turm stand weiterhin schief, und die Neigung nahm zu. 1298 betrug die Abweichung bereits 1,43 Meter, sechzig Jahre später waren es 1,63 Meter. Erst Tommaso Pisano vollendete 1372 den Bau nach insgesamt 177 Jahren mit dem Einbau der Glockenstube. Diese außergewöhnlich lange Bauzeit mit mehreren Unterbrechungen rettete paradoxerweise das Bauwerk, denn der Boden konnte sich zwischenzeitlich setzen.
Architektonische Besonderheiten
Der Turm erreicht eine Höhe von 55,86 Metern und wiegt geschätzte 14.700 Tonnen. Acht Stockwerke werden von Loggien mit Bögen gesäumt, die 15 Säulen aus weißem Marmor mit klassischen Kapitellen und Blendbögen umfassen – Motive, die die Fassade der benachbarten Kathedrale aufgreifen. Die aktuelle Neigung beträgt circa vier Grad, wobei die Spitze rund 3,9 Meter von der Vertikalen abweicht. Im obersten Stockwerk hängen sieben Glocken, deren Namen religiöse Bedeutung tragen: Die größte und schwerste heißt Assunzione, gegossen 1655 mit 2,5 Tonnen Gewicht, die älteste ist die Pasquereccia.
Bis 1990 nahm die Neigung jährlich um ein bis 1,2 Millimeter zu. Nach umfangreichen Restaurierungsarbeiten, die zur Schließung von 1990 bis 2001 führten, konnte die Neigung stabilisiert werden. Frühere Rettungsversuche waren weniger erfolgreich: Architekt Alessandro Gherardesca ersetzte 1835 den schlammigen Untergrund durch ein Marmorfundament – mit katastrophalen Folgen, denn die Neigung verstärkte sich weiter. Heute gilt der Turm als gesichert und steht laut Experten mindestens für die nächsten 300 Jahre stabil.
Die Piazza dei Miracoli als Gesamterlebnis
Der Schiefe Turm steht auf der Piazza dei Miracoli, dem Platz der Wunder, dessen poetischer Name vom Schriftsteller Gabriele D’Annunzio stammt. Dieser weitläufige Rasenplatz, umgeben von alten Mauern, beherbergt vier monumentale Bauwerke: die prächtige Kathedrale Santa Maria Assunta, das beeindruckende Baptisterium San Giovanni, den Camposanto Monumentale und natürlich den weltberühmten Turm. Seit 1987 gehört das gesamte Ensemble zum UNESCO-Weltkulturerbe. Die harmonische Synthese aus romanischer und gotischer Architektur spiegelt die kulturelle Blütezeit Pisas vom 11. bis 14. Jahrhundert wider.
Anders als typische italienische Plätze mit Pflastersteinen und Springbrunnen überrascht die Piazza mit ihrer ruhigen, fast sakralen Atmosphäre. Das satte Grün des Rasens darf in bestimmten Bereichen betreten werden und lädt zum Verweilen ein. Die Kathedrale mit ihrer prächtigen Fassade, das achteckige Baptisterium mit seiner bemerkenswerten Akustik und der monumentale Friedhof mit mittelalterlichen Fresken bieten weit mehr als nur die Kulisse für das schiefe Wahrzeichen.
Praktische Besuchsinformationen
Tickets und Eintrittspreise
Der Turm kann nur mit zeitlich festgelegten Tickets bestiegen werden, da maximal 30 Personen gleichzeitig oben sein dürfen. Standardtickets kosten etwa 20 Euro für einen 30-minütigen Besuch. Die Buchung im Voraus ist dringend empfehlenswert, da die Verfügbarkeit stark begrenzt ist und der Turm zu den meistbesuchten Monumenten Europas gehört. Wer spontan vor Ort Tickets kauft, muss mit langen Wartezeiten rechnen und kann möglicherweise nicht zum Wunschzeitpunkt hinaufsteigen.
Kombinationstickets für alle Monumente der Piazza dei Miracoli sind erhältlich. Nach dem Turmbesuch können die anderen Sehenswürdigkeiten – Baptisterium, Kathedrale, Friedhof, Museo dell’Opera und Museo delle Sinopie – innerhalb eines Jahres besucht werden. Der Eintritt zur Kathedrale ist grundsätzlich kostenlos, erfordert jedoch eine Zeitfenster-Reservierung. Digitale Audioguides können als Option hinzugebucht werden.
Öffnungszeiten
Der Turm öffnet ganzjährig um 9 Uhr morgens. Die Schließzeiten variieren je nach Jahreszeit zwischen 18 und 22 Uhr. In den Sommermonaten von Mitte Juni bis Ende August bleibt der Turm bis 22 Uhr geöffnet, während in den Wintermonaten November bis Februar meist um 18 Uhr geschlossen wird. Der letzte Einlass erfolgt 30 Minuten vor Schließung. Die genauen Öffnungszeiten ändern sich mehrmals im Jahr, daher sollte man sich vorab informieren.
Anreise nach Pisa
Von Florenz aus erreicht man Pisa bequem mit dem Zug in etwa einer Stunde vom Hauptbahnhof Santa Maria Novella zum Bahnhof Pisa Centrale. Vom Bahnhof sind es entweder zehn Minuten mit dem lokalen Bus LAM Rossa oder ein 20-minütiger Fußweg durch die charmante Altstadt zur Piazza dei Miracoli. Auch Busverbindungen wie FlixBus verkehren regelmäßig zwischen beiden Städten und benötigen etwa 1,5 Stunden.
Vom Flughafen Pisa, dem Aeroporto Galileo Galilei, gelangt man in nur acht Minuten mit dem PisaMover-Bus zum Hauptbahnhof. Von dort nimmt man den lokalen Bus oder ein Taxi, das etwa 15 Minuten benötigt und 12 bis 15 Euro kostet. Wer mit dem Auto anreist, findet kostenlose Parkmöglichkeiten in der Via Pietrasantina, Via Paparelli oder Via Pratale, die zwei bis drei Kilometer vom Turm entfernt liegen.
Der Aufstieg: Ein unvergessliches Erlebnis
Die 294 Stufen hinauf zur Spitze sind ein besonderes Erlebnis, das viele Besucher als leicht schwindelerregend, aber aufregend beschreiben. Der Aufstieg durch die gekrümmten Treppenhäuser vermittelt die Neigung des Turms hautnah – man spürt buchstäblich, wie die Schwerkraft an einer Seite stärker zieht. Taschen und Gepäck müssen vor dem Aufstieg in kostenlosen Schließfächern abgegeben werden, die sich in der Garderobe befinden.
Oben angekommen, belohnt ein fantastischer Rundumblick über Pisa und die toskanische Landschaft die Anstrengung. Man steht zwischen den sieben historischen Glocken, die heute elektronisch vor den Messen läuten, und kann die Kathedrale, das Baptisterium und die roten Dächer der Altstadt aus einer einzigartigen Perspektive bewundern. An klaren Tagen reicht der Blick bis zu den Apuanischen Alpen.
Tipps für verschiedene Reisetypen
Für Fotografiebegeisterte
Das klassische Foto, bei dem man den Turm zu stützen scheint, gelingt am besten vom südöstlichen Teil der Piazza aus. Experimentieren lohnt sich: Manche Reisende legen sich auf den Rasen für originelle Perspektiven. Die beste Lichtstimmung herrscht am frühen Morgen oder späten Nachmittag, wenn die Sonne den weißen Marmor golden färbt und lange Schatten wirft. Für Aufnahmen ohne Menschenmassen empfiehlt sich ein Besuch in den ersten Morgenstunden direkt nach Öffnung.
Für Kultururlauber
Wer sich für die Geschichte vertieft interessiert, sollte neben dem Turm auch das Museo dell’Opera besuchen, wo Originalstatuen und Skulpturen der Kathedrale ausgestellt sind. Das Museo delle Sinopie zeigt die Vorzeichnungen der Fresken aus dem Camposanto. Eine geführte Tour vermittelt spannende Details zur Baugeschichte und den Rettungsmaßnahmen. Die Akustik im Baptisterium ist legendär – oft demonstriert das Personal die beeindruckenden Echoeffekte.
Für Familien mit Kindern
Kinder unter acht Jahren dürfen den Turm aus Sicherheitsgründen nicht besteigen. Für jüngere Besucher bietet die Piazza dennoch viel: Die weitläufigen Rasenflächen laden zum Picknicken ein, und das Beobachten der kreativen Touristenfotos unterhält. Pädagogische Workshops für Kinder können vorab gebucht werden, bei denen geschultes Personal die jungen Besucher betreut, während Eltern den Turm besteigen.
Für Zeitoptimierte Reisende
Pisa eignet sich perfekt für einen Tagesausflug von Florenz aus. Wer nur wenig Zeit hat, konzentriert sich auf die Piazza dei Miracoli und plant zwei bis drei Stunden ein: eine Stunde für den Turmaufstieg, eine Stunde für Kathedrale und Baptisterium sowie Zeit für Fotos und einen kurzen Spaziergang. Die wichtigsten Sehenswürdigkeiten liegen fußläufig zusammen, sodass keine langen Wege entstehen.
Wissenswertes und Kuriositäten
Der Turm von Pisa inspirierte zahlreiche Legenden, darunter die berühmte Geschichte, dass Galileo Galilei zwei Kanonenkugeln von seiner Spitze fallen ließ, um zu beweisen, dass die Fallgeschwindigkeit nicht von der Masse abhängt. Historisch ist dies nicht belegt, aber die Anekdote unterstreicht die Bedeutung Pisas als Wissenschaftsstandort – Galilei wurde hier geboren.
Trotz seiner Berühmtheit ist der Turm von Pisa nicht das schiefste Gebäude der Welt. Der Kirchturm von Suurhusen in Niedersachsen weist mit 5,07 Grad eine noch stärkere Neigung auf. Der Turm wurde sogar als eines der sieben neuen Weltwunder vorgeschlagen, schaffte es aber nicht in die finale Liste. Unter Diktator Benito Mussolini galt die Schieflage als nationale Schande, und er ordnete 1934 Maßnahmen an – die jedoch die Situation nur verschlimmerten.
Weitere Sehenswürdigkeiten in Pisa
Abseits der Piazza dei Miracoli lohnt sich ein Spaziergang entlang des Arno bis zur Piazza dei Cavalieri, wo sich der alte Palazzo dell’Orologio und die angesehene Scuola Normale di Pisa befinden. Die mittelalterliche Brücke Ponte di Mezzo verbindet die beiden Stadthälften und bietet schöne Ausblicke. In den Gassen der Altstadt finden sich authentische Trattorien und Cafés fernab der Touristenströme.
Die Kirche Santa Maria della Spina am Arnoufer beeindruckt mit ihrer filigranen gotischen Architektur. Das historische Viertel San Martino mit seinen engen Gassen vermittelt das authentische Leben der Pisaner. Wer mehr Zeit hat, besucht den Orto Botanico, einen der ältesten botanischen Gärten Europas, der seit 1544 besteht.
Was Reisende beachten sollten
In allen Monumenten der Piazza dei Miracoli herrscht Fotografierverbot für kommerzielle Zwecke – private Aufnahmen sind erlaubt. Hunde und andere Tiere dürfen nicht hinein, Ausnahmen gelten nur für zertifizierte Blindenhunde. Öffentliche Toiletten befinden sich auf der Piazza und sind gegen geringe Gebühr zugänglich. Fundsachen werden im Sicherheitsbüro auf der Piazza Duomo 17 gesammelt.
Der Aufstieg ist anstrengend und für Menschen mit Mobilitätseinschränkungen oder Herzproblemen nicht geeignet. Schwangeren wird von der Besteigung abgeraten. Wer unter Höhenangst leidet, sollte sich bewusst sein, dass die Treppen schmal und die Neigung spürbar ist. An heißen Sommertagen kann es im Turm sehr warm werden – ausreichend Wasser einplanen.
Beste Reisezeit und Besuchsplanung
Die Hochsaison erstreckt sich von April bis Oktober, mit Besucherspitzen in Juli und August. Wer Menschenmassen meiden möchte, reist im Frühjahr von März bis Mai oder im Herbst von September bis November. Die Wintermonate bieten den Vorteil kürzerer Wartezeiten und günstigerer Unterkünfte, allerdings auch kürzere Öffnungszeiten und wechselhaftes Wetter.
Für einen entspannten Besuch sollte man mindestens 15 Minuten vor dem gebuchten Zeitfenster am Turm erscheinen. Das Zeitfenster ist verbindlich, bei Verspätung verfällt das Ticket kommentarlos. Wer mehrere Monumente besuchen möchte, plant einen halben Tag ein. Ein Tagesausflug von Florenz aus ist problemlos machbar, aber wer auch die Atmosphäre der Stadt genießen möchte, übernachtet idealerweise in Pisa.
Lohnt sich der Besuch wirklich?
Viele Reisende fragen sich, ob ein schiefer Turm den Hype rechtfertigt. Die Antwort lautet eindeutig ja – allerdings nicht nur wegen des Turms selbst. Das Gesamterlebnis der Piazza dei Miracoli mit ihren architektonischen Meisterwerken, die besondere Atmosphäre des Platzes und das Gefühl, ein weltberühmtes Wahrzeichen zu besteigen, machen den Besuch unvergesslich. Selbst Skeptiker, die anfangs dachten, es sei nur ein weiteres überlaufenes Touristenziel, verlassen Pisa meist tief beeindruckt.
Die ruhige, fast feierliche Stimmung auf dem grünen Platz kontrastiert angenehm mit der geschäftigen Touristenaktivität direkt am Turm. Die kunsthistorische Bedeutung der romanischen Bauwerke wird oft unterschätzt – wer sich darauf einlässt, entdeckt ein Gesamtkunstwerk mittelalterlicher Architektur. Die Geschichten zur wechselvollen Baugeschichte und den dramatischen Rettungsversuchen verleihen dem Monument eine menschliche Dimension, die über das reine Fotomotiv hinausgeht.
